AM22 – Brief an Walter Gropius
Toblach, Freitag, 19. August 1910 [= Poststempel]
Mein .
Ich habe gestern nicht geschrieben – sitzt mir den ganzen Tag am Genick – und die wenige Zeit – wenn er weg ist – arbeite ich. Eines der Lieder arbeite ich so vollständig um, dass es fast neu wird. – Gestern haben wir 3 ausgesucht, an denen nicht ein Ton zu ändern ist – ist rasend genau und streng und ich kann seinem Urtheil absolut trauen. – Für mich ist es jetzt eine Brücke zum Leben.
Plötzlich gefällt mir die Welt wieder. – Wie freue ich mich, wenn Du dieses Heft Lieder in Händen halten wirst. – Du musst mir ehrlich sagen – wie sie Dir gefallen – und welches \Dir/ das Liebste ist. – Sie sind voll Melodik – ich fürchte mich nämlich nicht vor der Melodie. – lebt für diese Lieder – seine ganze Produktion ist ihm „wurst“ – er spielt sie sich allein[,] sowie ich aus der Thür bin[,] und findet mein Wesen darin klarer, als
wenn er mit mir spricht. Also – das erste Exemplar – Dir! —
Und nun Du – bitte skizzire Dir Deine Bismar[c]kidee ein bissel so ganz klein aufs Briefpapier – mehrere Arten – ich versteh so was leicht. Und bitte, von Deinen Projekten od. fertigen Häusern immer kleine Photos schicken! –
Ich liebe doch jeden Strich, der aus Deiner Hand kommt. Lass mich theilnehmen – an Deinem ganzen inneren Leben.
Es soll so sein, dass immer[,] wenn wir uns wiederfinden – wir unsere kostbare Zeit nicht mit Thatsachenerzählungen ausfüllen müssen – um Brücken zu bauen[.] – Alle müssen von Dir zu mir u. von mir zu Dir intact sein[.] – Dann wird nie ein Fremdes zwischen uns lauern, dessen Wachsthum unsere Liebe zerstören muss. —
Willst Du sie Dir erhalten? Musst Du sie Dir erhalten? Unsere Verbindung soll Dir nie ein Zwang oder eine Kette sein werden –
in dem Moment, wo sie Dir aufhört eine Erhebung und Seligkeit zu \sein/ werden[,] dann sag’ es mir offen. – Ich war noch nie die Tiefe irgend eines Menschen – sondern immer seine Höhe. Ich liebe Dich. Meine Sehnsucht nach unserm
Dritten ist unaussprechlich!! – Wenn nur der Tag käme, an dem ich Dich – Dich empfangen dürfte[.] — Alles andre ist „Nichts“ dagegen! Sei gesund und liebe! – Erhalte Dich mir. Wenn Du es musst. —
Ich bin, was ich ewig sein werde –
Deine
Apparat
Überlieferung
, , , , , .
Quellenbeschreibung
3 Bl. (6 b. S.) – Briefpapier, Blattzählung AMs (Editionsrichtlinien) (, ).
Beilagen
Umschlag, , – Neubabelsberg bei | Berlin | Stahnsdorferstraße 83 | Herrn Walter Gropius; PSt. (lt. , S. 531, Nr. 112): TOBLACH 2 | 19 | 8 | 1 N | 10 | c; von WG mit einer 10 versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen). Hinter Briefmarke Teil der Porto-Angabe von AM, wahrscheinlich als Information für einen Boten erkennbar: 10 [Heller].
Druck
, S. 111, bei Anm. 78 (partielle Inhaltsangabe), , S. 435, bei Anm. 29 und S. 436, bei Anm. 30 (Auszüge), , S. 44, bei Anm. 125 (partielle Inhaltsangabe), , S. 879, bei Anm. 254 (Auszug in engl., teils fehlerhafter Übersetzung), , S. 22, bei Anm. 38 (Auszug) und , S. 22, Anm. 38 (Auszug in engl. Übersetzung).
Korrespondenzstellen
Beantwortet durch WG48 vom 20. oder 21. August 1910 (Ich will die Lieder von Dir hören, das ist mein sehnlicher Wunsch): Wie freue ich mich, wenn Du dieses Heft Lieder in Händen halten wirst.
Datierung
Schreib- und Absendedatum: „19.8.1910“ (, S. 111, Anm. 78 sowie , S. 44, Anm. 125 und S. 309), Übernahme dieser Datierung bei , S. 879, Anm. 254, „19. August 1910“ (, S. 435, Anm. 29 und S. 436, Anm. 30), „19. August 1910 (Poststempel)“ (, S. 22, Anm. 38) und „19 August 1910 (postmark)“ (, S. 22, Anm. 38).
Folgt Poststempel.
Übertragung/Mitarbeit
(Marie Apitz)
(Elke Steinhauser)
Eines der Lieder arbeite ich so vollständig um, dass es fast neu wird. – Gestern haben wir 3 ausgesucht, an denen nicht ein Ton zu ändern ist – wahrscheinlich für die Sammlung . Über den Bearbeitungsstand und den gemeinsamen Arbeitsprozess vor der Drucklegung ist nichts bekannt, jedoch lässt Passus G.[ustav] ist rasend genau und streng eine Revision aller fünf Lieder vermuten, zumal der Stichvorlage (A-Wst, Signatur MHc-14684) noch zahlreiche Korrekturen beifügen sollte, „die vor allem Dynamik und Phrasierung betreffen“ (, S. 13), s. zu den „Vortragsanweisungen“. Dagegen ist bei einigen der erst später publizierten der Vergleich mit früheren, zum Teil auch strukturell abweichenden Fassungen in der Handschrift sowie gegenüber dem späteren Druck möglich (, Signatur Alma-ms1-001ff.). Zu den erheblichen Revisionen von „“ und dem sogenannten „“, die schon im Sommer bzw. Herbst 1910 durchgeführt wurden, s. sowie und . Siehe auch Themenkommentar: Alma Mahlers publizierte Lieder.
Bismar[c]kidee – s. Themenkommentar: Bismarcknationaldenkmal.
Dritten – gemeinsames Kind.